das große herz
Erin* steht vor mir wippt von einem Bein auf das andere. Die regennassen Steinplatten haben sich unter seinen einstmals hellblauen Turnschuhen etwas gelöst und wackeln hin und her. Im Hintergrund, auf der matschigen Wiese vor der Turnhalle, Schüler und Schülerinnen, Sechstklässler in pastellfarbenen Sport – Klamotten, solche wie man sie in den Wühltischen der Supermärkte findet, stehen verstreut wir Flamingos im Zoo auf dem Rasen und warten. Erin ist dünn wie ein Streichholz, seine Haare sind zu lang, er muss darunter hervorlugen. Seine Zähne sind zu groß für seinen Mund. Sein Blick sagt, ich vertraue Dir jetzt und bitte und noch etwas herzliches, dass jetzt erst zu ahnen ist und später in all den Jahren, in denen sich unsere Wege noch kreuzen werden, genauso rasant wachsen wird wie er selbst. Er legt alles, was seit Tagen, vielleicht Wochen oder Monaten ständig überall aneckte, ihm eine Unzahl von Kniffen, Puffen und Zurechtweisungen eingeheimst hat, in meine Hand und sagt bittend: Heute hab ich zu viel Energie! Ich schaue kurz auf die Uhr, dann auf die Flamingo-Herde und unauffällig, nur über den Augenwinkel auch auf die Lehrerin rechts hinter mir. Einmal um die Turnhalle. Was Besseres fällt mir nicht ein. Bevor ich den Satz zu Ende sprechen kann, wetzt er schon los nach rechts, genau in die Schneise hinein, auf die der Blickscheinwerfer der Lehrerin fällt. Gerade noch kann ich das metallische Eeeeeriiiiin, stoppen zu dem sie gewohnheitsmäßig ausholt. Er kommt gleich wieder, sage ich. Und er kommt gleich wieder. Schon biegt er von links um die Turnhalle. Steht in Bruchteilen von Sekunden wieder vor mir. Er ist etwas außer Puste und ein bisschen stolz über das Staunen in meinem Blick. Besser? Frage ich. Ich brauche noch eine sagt er. Ok sage ich. Er rast los und ich verkneife mir ein Lächeln, denn ein paar irritierte Blicke flattern schon in unsere Richtung. Wir sind im Osten von Berlin. Die Turnhalle ist noch aus DDR-Zeiten. Sie steht auf einer Wiese inmitten einer bis zum Horizont reichenden Staffel aus mindestens sechsstöckigen Planbauten. Umgestülpte Badezimmer habe ich sie in meiner westlichen Arroganz oft genannt. Doch inzwischen weiß ich mehr, kenne einige dieser Wohnungen von innen. Manche haben sogar einen Schacht in den man den Müll werfen kann. Er poltert dann schnurstracks bis zu 12 Stockwerke herunter in die aufgestellten Container. Es kann sehr gemütlich sein in diesen Wohnungen, vor allem wenn man jeden Raum in einer anderen Farbe streicht, wie meine Bekannte Evi, die schon damals im Friedrichshain vor dem Mauerfall Tanz unterrichtete, und die immer sagt, dass man die Mauer ihretwegen ruhig hätte stehen lassen können. Viele denken hier so im Stillen. Da waren uns die Lügen der DDR lieber. Wenigstens waren sie als Lügen zu erkennen. Nicht so verschwurbelt und parfümiert wie die Lügen des Westens. Sondern gradlinig wie das Planbaukonzept. Jeder Winkel ist hier durchdacht. Und entsprechend der Menge an Wohnungen in einer Parzelle gibt es immer eine passende Schule mit der passenden Anzahl an Kantinenstühlen. Welche Bezirke aus dem Westen können das schon von sich behaupten? In den Schulkantinen gibt es Frikadellen und Kartoffelsalat aber auch all die guten Dinge die der Westen gebracht hat wie Fanta, Cola und Schokoriegel. Erin besucht eine dieser Schulen, zusammen mit den anderen auf der Wiese. Und genau wie alle anderen Kinder versucht auch er, dem unerträglichen Spannungsverhältnis aus West-Zucker von innen und Ost-Bitterkeit von außen standzuhalten. Nur gelingt es ihm nicht. Jedenfalls nicht so gut wie den anderen, die sich schon ein Stück weit geschützt haben. Sie sind umgeben von einem Vorhang aus Metall, vielleicht Blei. Vielleicht Eisen. Erin hat diesen Panzer nicht. Sein Herz ist ständig am Überfließen. Und damit ist er hier so allein. Während in den westberliner Brennpunkt-Schulen alles schrillt und johlt wie auf einem Jahrmarkt, ist es im Osten merkwürdig still. Es liegt eine traumatische Reglosigkeit über diesen Klassen, die für mich schwerer auszuhalten ist, als das haltlose interkulturelle Chaos in Neukölln oder Kreuzberg. Im Theaterprojekt versuchen wir, daran zu rütteln aber es ist schwer. Ein Berg aus Schweigen liegt über allem. Wir laden eine Frau ein, die sich bereit erklärt hat, aus ihrem Tagebuch vorzulesen. Zur Zeit des Mauerfalls, damals war sie fünfzehn. Ganz, ganz leise bröckelt etwas. Ich bringe eine Übung mit, in der es darum geht, innerlich einen Vorhang zu öffnen und die imaginäre Landschaft dahinter zu beschreiben. Als einer der Schüler, ein Leitwolf, der sich schwer tat mit uns, unendlich schwer, anfängt etwas zu sehen hinter dem Vorhang, machen wir alle einen leisen Schritt zusammen. Er sieht sich ganz oben auf einem Berg, er schaut über die Landschaft. Unten, weit weg, ist eine Stadt. Es schneit, schneit überall, unter seinen Füßen ist Eis. Es schneit auch auf ihn. Wir spüren den Schnee, sehen wie die Schneeflocken sich in seinen Wimpern fangen. Sehen seine Augen und sehen die Traurigkeit darin. Für einen Moment sind wir alle gemeinsam in der Welt hinter dem Eisernen Vorhang und lauschen gebannt. Langsam nimmt das Projekt Fahrt auf. Diese Schilderungen der inneren Landschaften projizieren wir im Theaterstück dann auf den „richtigen“ eisernen Vorhang. Es spielt in einem Ostberliner Café zu DDR Zeiten. Das Café heißt, Café Freiheit. Die Kinder im Stück haben ein Spiel zusammen. Sie treffen sich im Café Freiheit, schauen auf die Mauer und schildern sich gegenseitig, was in ihrer Vorstellung dahinter ist. Das es so ein Café im Osten der Stadt gegeben haben soll, das war wahrscheinlich wieder so eine dümmliche West-Projektion von mir. Trotzdem hat man es uns geglaubt oder glauben wollen. Nach der Premiere kam die stellvertretende Schulleiterin zu mir, auch sie schon Schulleiterin seit vor dem Mauerfall, diejenige, die eine 10 x 10 Meter große Tafel in ihrem Raum an der Wand hat, wo man Karten hin und her stecken kann, den Lehrplan macht und Stunden und Räume verteilt, diejenige der im Vorfeld unser Projekt so auf die Nerven gegangen ist, weil wir vier Unterrichtsstunden belegten, die die ganze Wand ins Wanken brachte. Sie kam zu mir mit Tränen in den Augen und sagte, ab jetzt könnt ihr alle Stunden und Räume haben die ihr wollt. So wenig spricht man hier über die Bitterkeit und den Westzucker, so wenig, dass diese schräge Fiktion die wir irgendwie zusammengeschustert hatten, sie schon so aus der Fassung bringt denke ich und bin auch gerührt. Am Ende sind wir es oft. Im Stück spielt Erin ein Nachwuchstalent in Leichtathletik. Er hat sich die Rolle selbst ausgedacht. Es gibt diese, seine, Szene mit dem Wettrennen. Das Wettrennen führt einmal rings um das Publikum, und das Publikum ist riesig, es umfasst fünfhundert Plätze. Fast die ganze Schule ist im Raum. Seine Klasse steht auf der Bühne und feuert ihn an. Die Schule feuert mit. Er gewinnt eine Goldmedaille. Hinter unserem eisernen Vorhang hätte er auf jeden Fall, die Goldmedaille gewonnen, in Wirklichkeit.
Fünf Jahre später im Sommer. Wir sitzen zu dritt auf der Wiese vor dem Jugendfunkhaus und sind frustriert. Meine Kollegin, ich und Diana. Das Jugendfunkhaus ist ein Jugendkulturzentrum, etwa zwei Kilometer südlich der Turnhalle. Einmal wöchentlich für vier Stunden treffen wir uns, nun am Nachmittag und außerhalb der Schule. Das Projekt ist freiwillig. Es kommt wer kommen will. Teilnahme ist kostenlos. Der Bezirk bezuschusst uns für zwei Jahre. Ich habe mehrere Schülerinnen meiner ehemaligen Klassen informiert, sie haben versprochen vorbeizukommen und die Nachricht weiterzugeben. Die Einzige, die bislang verlässlich kommt, ist Diana, was an sich schon ein Wunder ist. Aber wir brauchen mehr als ein Wunder. Wir brauchen eine Revolution. Langsam steigert sich die Frustration zur Panik. Abgesehen von der persönlichen Niederlage: Wenn keiner kommt sind wir am Arsch. Wir müssen Anwesenheitslisten führen. Wenn hier keine Theatergruppe zustande kommt, müssen wir am Ende das Geld zurückgeben. Wir zahlen inzwischen Miete für ein Büro, auch das sind wir dem Bezirk dann Schuldig. Ich habe mir gerade das Rauchen abgewöhnt, überlege jedoch jetzt, Diana nach einer Zigarette zu fragen. Als ich zu ihr hinschaue um zu der Frage anzuheben, schiebt sich von Links etwas in mein Blickfeld. Diana sieht es im selben Moment. Sie grinst und zieht an ihrer Zigarette. Mir schlägt das Herz bis zum Hals. Erin! Er steht auf einem Longboard und kommt angerollt. Inzwischen ist er zwei Meter groß und auch nicht mehr so dünn wie ein Streichholz, aber seine Haare sind immer noch zu lang. Sie stehen im Fahrtwind zu Berge. Irgendwie erinnert er mich immer noch an ein Streichholz. Ein Streichholz das brennt. Er hat ein breites Grinsen im Gesicht. Das Longboard bleibt genau auf unserer Höhe wie von selbst stehen, als hätte er es so geplant. Mein Herz macht einen Ruck. Bevor ich es denken kann, weiß ich es: wir sind gerettet.
Und so ist es auch. In den folgenden Wochen kommen immer mehr Leute. Und sie bleiben. Im Herbst sind wir ein stattlicher Trupp und die Bude brennt. Es ist eine wirkliche Revolution. Sie leiten sich gegenseitig an, schreiben, diskutieren, proben im Flur, draußen, rauchen, kommen wieder rein mit neuen Ideen. Geben sich Feedback, verwerfen, zeigen Zwischenergebnisse, wir kommen aus dem Staunen nicht mehr heraus. Jede und Jeder trägt auf ihre und seine eigenste Weise dazu bei, dass dieses Wunder passiert. Aber, ganz ehrlich, und das wissen alle, ohne Erin wäre dieses Wunder nicht passiert. Er hat immer noch zu viel Energie und manchmal nervt es. Er quatscht die ganze Zeit, ist immer irgendwie am rumzappeln, am Lachen oder wälzt sich allein oder zu zweit mit jemandem am Boden. Aber wenn er zur Probe kommt, entspannt sich alles. Er macht die Runde, jeder wird gegrüßt, kriegt eine Umarmung oder ein Wort oder beides. Erin ist das Herz der Gruppe.
Wieder ein paar Jahre später, Erin verabschiedet sich. Er hinterlässt eine riesige Lücke, die sich nie ganz schließen wird. Aber er hat eine Freundin außerhalb, sie mag es nicht so, wenn er herkommt. Und er fängt eine Berufsausbildung an. Erin wird Rettungssanitäter. Das habe ihn schon immer fasziniert. Das Tempo in dem man da arbeiten muss, und immer genau da zu sein, wo es brennt. Da, wo es am schlimmsten ist. Und dann was machen zu können, helfen zu können, am Ende sogar Leben zu retten. Ich weiß nicht, ob ihm jemand das gesagt hat, vielleicht auch nicht, aber wenn nicht, war es auch nicht schlimm, denn ohnehin wissen wir es alle und auch Erin weiß es, und er weiß auch dass es uns allen klar ist, nämlich, dass er auch mit seiner Berufswahl mal wieder ins Schwarze getroffen hat.
*Name geändert
© Ana-Svenja Kiesewalter