Der Berg
Meine linke Hand liegt auf dem geriffelten Plastikgriff der Eingangstür. In der Rechten eine Selbstgedrehte. Ich nehme einen letzten Zug. Der Schulhof ist leer. Niemand sieht, dass ich die Kippe unter dem Turnschuh zerdrücke und weg kicke. Sie flitzt zusammen mit ein paar vergessenen Streusplittern unter eine Sitzbank aus Beton. Ich bin nicht die Erste die das macht. Unter der Bank tummeln sich die Kippen. Alles hier auf dem Schulhof ist zu kalt, um darauf zu verweilen, aber es ist ja auch erst Februar. Die Eingangstüren der Schulen in denen ich unterwegs bin, ähneln einander. Metall, abgesplitterte Farbe. Speckige Griffe, meist aus Plastik, ganz selten aus abgegriffenem Holz. Ich spucke einen winzigen Tabakkrümel, nehme einen tiefen Atemzug Februarluft und drücke die Tür auf. Der Flur begrüßt mich mit Widerwillen. Die Farbe an den Wänden heißt Beigebraun und ist voller geheimer Botschaften, mit Edding schnell an die Wand gekritzelt. Der Hausmeister hat wohl irgendwann aufgegeben, oder die Farbe zum Überstreichen war nicht mehr verfügbar. Vielleicht hat Lindgrün Beigebraun als Farbe für Schul-Treppenhäuser abgelöst. Bisher war hier keine Zeit für etwas optimistisches wie eine neue Farbe. Wir sind in Berlin Schöneberg, irgendwo hinter der A 100, die man bei ungünstigen Witterungsverhältnissen auf dem Schulhof riechen kann. Vor dem Klassenzimmer, an die Wand gelehnt, wartet Paul. Er sieht müde aus. Ich mag seine eingefallenen Augen. Sie sind immer freundlich, bürden einem nichts auf. Ich lege ein Ohr an die Tür. Am Überforderungsgrad der Schulleiterin gemessen ist die Wahrscheinlichkeit nicht besonders hoch, dass der Raum der uns zugeteilt wurde, immer noch für das Theaterprojekt zur Verfügung steht. Aber es ist still im Raum, kein Unterricht. Wir können anfangen, die Tische zur Seite zu schieben. Ich drücke die Klinke herunter.
Als die Tür den Blick auf das Klassenzimmer freigibt, bleibt mir der Atem weg. Relgos bleiben Paul und ich im Türrahmen stehen. Wie erstarrt stehen wir den Berg. Ich muss ausholen.
Die Gruppe Jugendliche mit denen wir arbeiteten waren Schüler und Schülerinnen einer achten Klasse. Aber die wenigsten von Ihnen waren vierzehn Jahre alt. Und wenn sie erst vierzehn waren, dann hielten sie sich verdeckt im Hintergrund, denn beherrscht wurde die Klasse von ein paar älteren Jungs, Schul-Abbrecher, Wiedergekehrte, Sitzengebliebene. Sie hatten das Spiel durchschaut und kannten die Regeln. Ihr Spiel spielte sich eine Oktave höher ab. An guten Tagen ging es darum, ein zärtliches Spiel mit der Schule zu treiben, so wie die Katze mit der Maus. Die Katze wird nicht gleich zum tödlichen Schlag ausholen. Diese Jungs, es waren vor allem zwei, hatten die Klasse in der Hand. Ein Augenaufschlag, ein Gähnen und oder Schnalzen. Ein Kippen mit dem Stuhl und die Klasse geriet ins Wanken. Dann begann das Spiel. Das Spiel war ihr Tanzboden. Ein Orchester aus äußerst eleganten Bewegungen fiedelte und posaunte los. Bewegungen, deren einziger gemeinsamer Nenner war, dass sie gegen den Strich gingen. Waren Lehrer und Schüler gut drauf, entspann sich um dieses kybernetische Spiel eine Achterbahnfahrt aus Emotionen, deren Navigation alle bis zur letzten Sekunde im Atem hielt. Adrenalin pur. An schlechten Tagen endete das Spiel schnell. Eine Dominokette aus pädagogischem Nichtgelingen landete gradlinig und dumpf auf dem Schreibtisch der Schulleitung, die sich im vollziehen von Ausweichmanövern spezialisiert hatte. Schulverweis oder was auch sonst. Oft trug es einfach nur zur weiteren Erhöhung des Blutdrucks bei und verpuffte ansonsten später. Schwebte richtungslos im Zigarettenrauch von Schülern Lehrern davon, der sich spätestens auf Höhe der A 100 endgültig vermischt hatte. Diese Jungs hatten die gläserne Decke längst erreicht und schon X-Mal durchbrochen. Ebenso oft waren sie zurückgekehrt, oftmals ehrlich und im tapferen Bemühen, das Narrativ Schule irgendwie doch zu glauben und dabei zu sein. Doch der Glaube ließ sich einfach nicht lange genug aufrecht halten. Zu kurz um es wenigstens zu einem kleinen guten Ende zu führen: Eine drei in der Klassenarbeit. Oder vielleicht der Mittlere Schulabschluss. Immer brach das Kartenhaus vorher zusammen. Was sich abseits dieser Zielgeraden vollzog, war ein Tanz aus nicht synchronisierten Fetzen verschiedenster Kulturen und mindestens doppelt so vieler Vorurteile, Handys, Zigaretten, Kaugummi, kleinen und großen Demütigungen, Feindschaft und Solidarität, mafiösen Machtspielchen, dumpfer deutscher Ignoranz und sehr viel Schweißgeruch.
Natürlich haben Menschen wie Paul und ich in so einem Kontext keinen höheren Status als Witzfiguren auf dem Jahrmarkt. Deutsche Knallerbsen, oder hier auch Kartoffeln genannt, die als Kulturprojekt eingeschleust werden um zu retten was nicht mehr zu retten ist. Die totale Katastrophe. Aber das genau das betrachtete ich als die Chance überhaupt. Wir waren das allerletzte. Dieses Mantra machte uns quasi unbesiegbar. Wir sind die letzten. Und jetzt? Gemeinsam waren wir nichts weniger als Götter, die aus dem Nichts schöpfen. Jede Bewegung knisterte von Abenteuer.
Aus einem Akt der Verzweiflung hatte ich in der Woche zuvor die zwei Leader der Klasse aus dem Probenraum geschleust. Es war einfach unmöglich, die gewohnte Rangordnung in der Klasse aufzulösen, und die vierzehnjährigen aus der Reserve zu locken, wenn sie anwesend waren. Wir, also die zwei Jungs und ich standen zu dritt im Flur. Es war ein Moment der Leere. Aber es war auch eine gewisse Neugierde zu spüren. Und jetzt? Ich schlug vor, dass wir uns ein paar Requisiten besorgten. Als ich statt bemalter Papp-Leinwände den Joker aus der Tasche zog, hatte ich sie, zumindest für den Moment auf meiner Seite: wir können ja mal als Requisiten zwei Schulstühle und einen Schultisch aus dem Klassenzimmer holen und im Treppenhaus aufbauen. Das Meta-Schule-Spiel war zum Greifen nahe. Es dauerte gefühlte Sekunden, bis wir zwei Stühle und einen Tisch auf einem Treppenabsatz aufgebaut hatten, der zwischen Turnhalle und Schulgebäude lag. Hier würden wir den Unterricht nicht stören. Wie im Klassenzimmer saßen die beiden auf ihren Stühlen und wir schauten uns gegenseitig an. Und jetzt? Ich fragte einen von ihnen, welche Bewegungen ihm für diese Situation - am Tisch im Klassenzimmer - so einfielen. Er sollte sie nicht erklären, sondern machen. Der jeweils andere hatte die Aufgabe, die Bewegung zu doppeln, was sie wie einen Tanz aussehen ließ. Wenn dem einen die Ideen ausgingen, machte der andere ohne viel Absprache weiter. Wir waren auf der richtigen Spur. Nach ein paar Takten machte ich Musik an und die beiden vollführten an diesem Tisch eine wirklich meisterhafte Choreografie aus Protest- Langeweile und Provokationsbewegungen. Es war ihr Tanz. Es war witzig, humorvoll doppeldeutig und sehr, sehr einfallsreich. Ich war hellauf begeistert und lachte mich kaputt, was sie weiter anfeuerte. In meiner Begeisterung ließ ich mich zu Spekulationen hinreißen,
für die es in der dritten Stunde eigentlich noch zu früh war, nämlich, wir könnten das ausbauen, Choreografien mit Klassenzimmermöbeln machen, dieses ganze absurde Spiel der Schule auf die Spitze treiben und das als Theaterstück. Da sie nicht auf meine Worte reagierten, nahm ich an, dass mein Gelabere sie nervte und hielt mich mit weiteren Ideen zurück. Die Zeit verging wie im Flug und wir wurden vom Pausenklingeln unterbrochen. Die beiden standen auf und verschwanden ohne sich zu verabschieden. Ließen mich als selige Witzfigur mit dem Klassenzimmermobiliar alleine im Treppenhaus zurück.
Die Situation am Eingang zum Klassenzimmer, als ich die Tür öffnete, ereignete sich genau eine Woche später. Was also war hinter der Tür? Zunächst sehe ich einen der zwei Jungs, er steht mitten im Raum. Hinter ihm die Fenster. Rechts von ihm, etwas weiter hinten, an einen bereits zur Seite geschobenen Tisch gelehnt, der andere. Auch er schaut in unsere Richtung, wenn auch etwas verstohlener. Er hat den Kopf gesenkt und linst mit verschränkten Armen unter seinem Wuschelhaar hervor. Als sich die Tür weiter öffnet, wird ein gigantischer Berg aus Stühlen sichtbar.
Der Stuhlberg reicht bis zur Decke des Klassenzimmers. Wir sehen ihn und sehen ihn nicht. Wir haben einfach nicht damit gerechnet. Der Junge neben dem Stuhlberg gibt uns nur ein paar Sekunden. Dann hebt er den Zeigefinger und bewegt ihn langsam auf den Berg zu. Die Luft prickelt. Dann presst er den Finger gegen einen der Stühle und gibt ihm einen Ruck. Vor unseren Augen bricht der Berg zusammen. Ein apokalyptisches Getöse. Stühle krachen zu Boden und schlittern bis in die hintersten Ecken des Klassenraums. Der Berg sackt in sich zusammen, kein Stuhl bliebt auf dem Anderen. Es ist ohrenbetäubend. Mein Herz schlägt mir bis in den Hals. Als endlich alles still ist, steht er immer noch da und schaut uns an. Es ist so still. Dann drehe ich mich zu Paul um. Seine Augen sagen das ist ok, aber vor allem sagen sie, ich bin müde. Sein Mund sagt nichts. Ich drehte mich wieder um und bringe irgendwas hervor wie, ok lass uns einen Stuhlkreis bauen. Die Stühle die wir nicht brauchen bitte an die Seite unter die Bänke.
Das wars.
In der kommenden Woche ist der Junge der den Stuhlberg angetippt hatte nicht mehr da. Paul hatte von der Schulleiterin gehört, Schulverweis. Irgendwas wegen Drogenhandel, die Sache war schon länger ein Problem.
Jahre später: ich schaue einen Zeitlupe-Film meiner Tochter an, wir haben mit ihr zusammen einen riesigen Turm aus Kapla Steinen gebaut. Auf dem Film schaut sie mich an, kurz bevor sie den Turm einstürzen lässt. Dieser Blick. Plötzlich fährt es mir wie ein Blitz in ́s Herz, auf einmal, Jahre später stürzen die fehlenden Puzzleteile auf mich ein: Ich stelle mir vor, wie die beiden Jungs sich unterhalten, einen Plan spinnen, sich dann am entscheidenden Tag zur entscheidenden Stunde Zugang zum Klassenzimmer verschaffen, unauffällig. In der Pause, die sie sonst immer rauchend oder dealend auf dem Beton im Hof verbringen. Wie sie leise die Tische zur Seite räumen, wie sie die Stühle stapeln. Wie sie es schaffen, den Berg so hoch werden zu lassen. Bis zur Decke. Das war bestimmt nicht einfach, man musste auf Stühle steigen, sich gegenseitig helfen. Wie der Berg nicht halten will. Wie die Zeit knapp wird. Sie stehen unter Druck, wollen es aber schaffen bis wir kommen. Die Pause ist nur kurz und sie dürfen nicht auffallen. Ich stelle mir vor, wie sie sich unsere Reaktionen ausmalen, sich gegenseitig anfeuern. Wie es wohl wird, wenn wir die Tür aufmachen. Sie freuen sich darauf wie zwei Kinder. Ich schaue das Video meiner Tochter an und kann es kaum aushalten. Mein Herz tut weh. Erst jetzt wird mir klar, die Idee mit dem Stuhlberg, der einstürzt, war einfach unfassbar genial. Leider habe ich keine Chance mehr, es ihnen zu sagen.
©Ana-Svenja Kiesewalter