Kalles Universum

Als Kalles* Nachricht mich erreicht, sitze ich auf der kleinen Bank auf meinem Balkon, ein Kissen im Rücken, beobachte die noch verschlossenen Rosenknospen und lasse mir die Sonne ins Gesicht scheinen. Es ist zehn Uhr morgens, meine Tochter ist in der Schule. Neben mir auf dem wackeligen roten Metalltisch ein Kaffee und mein Handy. Mein Kopf ist traumschwanger. Zurzeit träume ich viel, kann mich an wenig erinnern, laufe nur den ganzen Vormittag mit dem Gefühl herum, das die Nacht hinterlassen hat. Als das Handy piepst, spüre ich Widerwillen. Auf dem Tisch liegen lassen kann ich es trotzdem nicht. Ich nehme es hoch, es ist heiß von der Sonne und auf dem verriegelten Display sehe ich, dass die Nachricht von Kalle ist. Es passiert ab und zu, dass ich von den Jugendlichen aus der Theatergruppe etwas höre, die natürlich inzwischen keine Jugendlichen mehr sind. Sie arbeiten, sind aus Berlin weggezogen. Wenn sie still sind, schreibe ich manchmal, und manchmal sagen sie mir dann, es wäre genau im richtigen Moment gewesen. Wenn man gerade in der leeren Wohnung stünde, nachdem sich der Freund getrennt habe etwa. Dass Kalle Nachrichten schreibt kommt eigentlich nicht vor. Sechs Jahre ist es her, seit ich mit der Jugendtheaterarbeit aufgehört habe. An einem Nachmittag mitten im Lockdown stand ich in meinem Schlafzimmer, eine winterlich graue Nachmittagssonne schien an die Wand, es war still und ich wusste plötzlich - mehr als dass ich es wollte - dass jetzt der Moment gekommen war an dem ich loslasse. Die Pandemie tat ihr übriges, beschleunigte die Auflösung, wie vieles in dieser Zeit verschwand, was mit Herzblut und Spucke zusammengehalten wurde, nur in 3D und nicht digital stattfinden konnte. Jetzt, sechs Jahre später bin ich irgendwo am anderen Ufer angekommen, mehr Geld für weniger Arbeit und weniger Herzblut. Ich kann mich nicht beklagen. Seit sechs Jahren habe ich von Kalle nichts mehr gehört.

Ich hab Kalle zum ersten Mal gesehen, als er in die siebte Klasse ging. Ich erinnere mich noch genau an den Tag. Wir waren in Berlin Karlshorst. Ein riesiger Raum ohne Fenster mit Holzboden. Links eine Bühne, rechts die schalldichte doppelflügelige Tür. Aus den ersten drei Stuhlreihen haben wir einen Kreis gebaut. Kantinenstühle mit Metallfüßen. Es sind über zwanzig Stühle im Kreis. Als die Saaltür wie ein gebrochener Staudamm aufplatzt und die Klasse zum ersten Mal in den Raum flutet, brüllt eines der blonden Mädchen aus der Mädchengang, die wir bis zum Ende nicht wirklich für die Theaterarbeit begeistern konnten, wo eine Steckdose ist, sie müsse ihr Handy laden. Die Lehrerin ist sehr groß und hager. Ihr Name ist Frau Adler. Sie redet wenig mit uns und in einem klaren, Respekt, aber nicht Wärme, einflößenden Ton mit den Schülerinnen. Als alle im Kreis sitzen, geht mein Blick rum. Ich sehe zwei Gesichter, die sofort in mein Herz einziehen. Ich weiß, pädagogisch ist das falsch. Man übt sich ständig daran, alle gleichviel zu achten und zu lieben. Aber wenn man selber im Überlebensmodus ist, und das bin jedenfalls ich immer in der ersten Stunde, zählt dieses Prinzip kurz einmal nicht und man hält sich an das, was instinktiv ja sagt. Genau diese zwei waren es, zu denen mein Herz sofort ja sagte. Einer von ihnen war Kalle. Die zweite Jana. Doch ihr gebührt ein eigenes Kapitel.

Der Kalle, an den ich mich erinnere ist so: Meist geht er gekrümmt. Abwechselnd hängen ihm die schwarzen Locken über die Brille oder er hat plötzlich wieder die Hälfte seiner Haare abrasiert, und es bleibt nur ein Stummel oder irokesenschnitt von den Locken übrig. Seine Haare müssen rasend schnell wachsen, gefühlt hat er jede Woche abwechselnd entweder Iro oder Wuschelkopf. Manchmal trägt er eine Fliege, dann wieder T-Shirts mit selbstentworfenen Comicfiguren denen die Augen rausquellen oder die Zunge aus dem Mund hängt, als würden sie jeden Moment ersticken. Die Brille ist zu schwer für seine Nase und meistens befindet sich ihr oberer Rand genau vor seinen Augen, wenn man mit ihm spricht. Kalle lebte schon damals in der siebten Klasse in einem parallelen Universum, dass sich nur auf Bruchstücken aus Filmen abstützte und ansonsten frei und äußerst Fragil um ihn herschwebte. Er schien in seinem Umfeld zwischen den Plattensiedlungen von Berlin Lichtenberg und dem Karlshorster Tierpark nichts zu finden, dass die Existenz seines Universums rechtfertigte. Schon als Siebtklässler hatte er den Blick von Jemandem, der weiß auf welche dornige Fahrt er sich damit begibt. Verletzung und Eigensinn wechselten sich bei ihm ab, wie sein Haarschnitt. In dem Theaterstück, dass wir damals mit dieser siebten Klasse entwickelten, hatte Kalle einen einzigen Auftritt, ansonsten versteckte er sich in der Masse. Ein Monolog, von ihm selbst geschrieben, bei dem er sich langsam im hinteren Bereich der Bühne von links nach rechts bewegte. Dabei trug er rosa Hasenohren, auch die Wahl dieses Kostüms war von ihm. Kalles Auftritt ist das einzige an das ich mich von diesem Stück noch erinnere und ich glaube, dass es allen Zuschauern im Saal ebenso ging. Für einen Moment bewegten wir uns, synchron und in Zeitlupe, alle gemeinsam in Kalles Universum. Mehrere hundert Leute und Kalle. Ich weiß, dass er es auch gespürt hat, denn er hat es mir nachher gesagt, schüchtern und etwas verschwitzt, gemeinsam mit noch einem anderen Siebtklässler, nach der letzten Aufführung mitten im Gemenge. Es war ihnen anzusehen, dass sie sich auf diesen Moment vorbereitet hatten, und dass er ihnen wichtig war. Sie wollten sich entschuldigen, dass sie sich am Anfang so quer gestellt hätten, denn eigentlich wäre das Theaterspielen richtig cool und dann verschwanden sie auch schon wieder im Gemenge. Damals waren sie noch so klein, dass es blitzschnell ging. Ich glaube das war das einzige positive Feedback, dass ich von Kalle jemals bekommen habe. Danach war es ein mit- und nebeneinander, fast schon ein Kopf- an Kopf rennen, in dem ich Jahr um Jahr mehr gelernt habe, Fragen zu stellen, statt zu antworten. Denn keine Antwort stellte Kalle zufrieden. Es ging ihm um das Unfassbare. Die offene Jugend-Theatergruppe, in der auch Kalle später auftauchte, war der einzige Ort wo das geschah, dass Kalle sein Universum durch die Pubertät retten konnte ohne es zu verlieren und ohne sich vollends darin zu verlieren. Es waren Jahre der Übersetzungsarbeit, über die Jugendzeit hinweg, die der Höllenfahrt gleicht, in die Gandalf zu Beginn des zweiten Teils von „Herr der Ringe“ gerissen wird. Als die Brücke plötzlich einreißt, Frodo noch versucht ihn zu retten, wie er im letzten Moment vom Dämon gepackt wird und Frodo, der um ihn bangt, ihn nicht loslassen will, mitten ins Gesicht faucht „Flieht, ihr Narren!“, bis er über weite Teile des Films in der Tiefe verschwindet. Kulturtechniken unserer Zeit staffieren die Hölle, durch die Jugendliche gehen, etwas anders aus als Peter Jackson seinen Film. Unsere Zeit bietet hierfür stattdessen Nächte voller Horrorfilme und Egoshooter, Medikamente aller Art, durchaus als Drogen zu verwenden, man muss nur wissen, was man den Therapeuten erzählt, tagelanges an die Decke starren in Krankenbetten der Kinder- und Jugendpsychatrien und aufgeritzte Arme bis zur Schulter. Irgendwann tauchen sie wieder auf, wenn wir Glück haben, so wie Gandalf plötzlich im Wald wieder erscheint, umgeben von einem weißen Licht. So hell, wie Jana* auf der Bühne in der von ihr selbst entwickelten Szene in unserem Psychiatrie-Stück, in der sie uns alle im weißen Kittel die Wirkung von etwa 20 verschiedenen Psychopharmaka erklärte und dabei so schnell redet, dass wir kaum mitkamen. Die Arme unter dem Kittel voller Narben, der Blick klar und zielgerichtet. Sie hatte diese Welt im Selbstversuch kennengelernt und durchschaut. Und sie würde da wieder rein gehen in diese Welt, diesmal mit klarem Kopf, und Karriere machen, was sie übrigens auch tat.

Wie Jana besuchte auch Kalle alle Stationen dieser Hölle, hatte jedoch im Gegensatz zu ihr noch ein einigermaßen intaktes Zuhause, zu dem er abends zurückkehren konnte. Auch wenn die verzweifelte Religiosität seiner lateinamerikanischen Mutter ihn in den Wahnsinn treibt. Es war nicht die Religiösität, sondern die Verzweiflung, wie er bei näherer Betrachtung herausfindet. Eingesperrt in die Spießigkeit der Lichtenberger Vorstadt, konfrontiert mit Alltagsrassismus und Seelenlosigkeit. Er kann nichts für sie tun. Stattdessen macht er Texte und Szenen daraus, er schreibt und kreiert sich schamlos alles von der Seele. Während andere sich die Arme aufschneiden, holt er seine Eingeweide auf der Bühne raus. Es ist ihm egal. Er will Blut sehen, möglichst warm, möglichst sein eigenes oder das von denen, die er liebt oder nicht mehr lieben kann. Das Paralleluniversum von Kalle ist längst nicht mehr nur vom rosa Hasen besiedelt. Aber er folgt ihm noch, wie Alice im Wunderland. Alles was er macht, ist von einem seltsamen Humor begleitet. Je mehr Hölle er nach draußen bringt, desto mehr bringt er uns zum Wundern, manchmal zum Lachen.

Im vorletzten Jahr unserer gemeinsamen Zeit verbiete ich der ganzen Gruppe das reden. Ich will, dass sie andere Ausdrucksformen entdecken. Maximal ein Satz pro Szene ist erlaubt. Ein Teil der Gruppe, darunter Kalle, macht gerade Abitur, und redet ebenso zu viel wie sie kifft. Der andere Teil lernt gerade erst deutsch. Es sind junge Männer, aus Syrien geflüchtet, teilweise unter unfassbaren Mühen, die wir nach und nach aus den Gesprächsfetzen, die wir verstehen oder übersetzen können, wie ein Puzzle zusammensetzen. Wir erkunden die Welt jenseits der Sprache. Es fällt Kalle schwer, er ist wütend auf mich, die Sprache war eines seiner Rettungsboote. Die anderen Abiturienten sind auch ein bisschen sauer. Aus lauter Wut sprengen sie die Grenzen, finden neue Formen der Theatersprache. Ihre Freunde werden sie eh nicht einladen, es ist ihnen egal. Es wird ein Stück mit dem Bühnenbild einer Irrenanstalt. Zwangsjacken, weiße Laken und Krankenbetten. Sie werfen mit Pillen um sich und spielen Abiturklausur, so grotesk, dass wir Zuschauer schwitzen vor Lachen. Kalle trägt im Stück einen Krankenhauskittel, das sind diese erniedrigenden Kleidungsstücke, die hinten offen sind und am Hals nur mit einem Klett zugemacht werden. Und eine Windel für Erwachsene. Die Kostümierung haben sich die Jugendlichen selbst ausgedacht. Einzige Bedingung war, dass die Kleidungsstücke weiß sind. Kalle will, dass das Stück damit endet, dass alles zerstört wird, das ganze Bühnenbild. Das geschieht auch. Aber ich will, dass es nach der Zerstörung weitergeht. Es hat mit den Jungs aus Syrien zu tun. Auch das ist wieder eine Geschichte für sich, und verdient ein eigenes Kapitel. Ich muss mich regelrecht durchsetzen. Die Windel von Kalle lese ich als Trotz. Aber sie ist auch sehr komisch, alle feiern sie. Kalle dreht, in der Theatergruppe zum Schweigen gebracht, stattdessen Zuhause mit Freunden aus der Theatergruppe einen Film über seinen Selbstmordversuch, der schief gegangen war. Der Ast an dem er sich aufhängen wollte, war abgebrochen. Der Film sollte das Gefühl danach einfangen, wenn man wieder zuhause ist und dieses Leben weiterleben muss. Irgendwie kam durch, dass er sich damit auf der Filmhochschule bewerben wollte. Das Kalle auf die Filmhochschule geht, war dann eigentlich schon damals klar, in der siebten Klasse, zumindest für ihn. Den Rest galt es nur noch zu beweisen. Nach der Höllenfahrt der Jugend sollte es geschehen. Versehrt wie er war musste er endlich den Beweis erbringen, dass es einen Platz für sein Universum in dieser Welt gibt. Der ganze Schmerz musste doch zu etwas gut sein. Wir bekamen von ihm einen Link in die gemeinsame Chatgruppe um den Film auf Vimeo anzusehen. Ich bringe es nicht fertig, ihm zu sagen, dass er mit diesem Material wahrscheinlich nicht genommen würde. Auf diese Abgründigkeit haben allenfalls Theaterpädagogen Bock, nicht aber Professoren an Kunsthochschulen. Ich bringe es nicht fertig. Stattdessen orakele ich, dass er es mit Sicherheit auf die Filmhochschule schaffen werde, aber nicht ad hoc, nicht beim ersten Anlauf, was vermutlich auch nicht gut für seinen Charakter wäre, Einbildung und so, sondern mit viel Mut und Geduld und vor allem Ausdauer. Ich sagte das mit Humor, inzwischen kannten wir uns gut genug. Ein bisschen fühle ich mich wie die Theater-Oma von damals, als die beiden verschwitzen Siebtklässler vor mir standen um sich für die Aufführung zu bedanken. Erwachsen werden ist so Scheiße schwer. Auch ich will nie, nie, niemals wieder achtzehn sein.

Das Psychatrie-Stück war eine Bombe. Eine Legende, die nicht mit Zerstörung endete. Am Ende der Probenwoche gab es eine Art magischen Synergieeffekt. Gemeinsam landeten wir den Schluss, einen Tag vor der Generalprobe. Alles fand seinen Platz, es war schlichtweg genial, was natürlich auch Kalle erkannte auch wenn der Schluss nicht von ihm alleine war. Zum Beginn des nächsten Schuljahres waren alle wieder am Start und noch ein paar mehr, durch die Aufführungen angelockt. Eine unfassbar bunte, diskutierfreudige, hochmotivierte Gruppe. Wir wollen einen weiteren Schritt wagen und ein Thema aufmachen das für weiße, westliche Jugendliche, besonders wenn sie gerade das Abitur hinter sich haben, a priori in die Krise führen muss. Dekolonisierung des Denkens, Enttarnung von Herrschaftswissen, Abschaffung patriarchaler Strukturen und nicht zuletzt struktureller Rassismus. Das Thema geht durch alle Reihen, vor allem der Theaterwelt. Das Thema geht mir zutiefst unter die Haut. Ich bin unsicher. Aber wir wollen alle Beteiligten gleichermaßen abholen. Was betrifft uns alle wirklich? Als ich ein paar Takte zum Thema anschlage, erstmal ohne die Überschrift zu nennen, sehe ich sofort, dass die syrischen Jungs sich wiederfinden. Unsere gerade nicht mehr Abiturienten jedoch sind am Ende dieses Tages irgendwie frustriert und sitzen danach noch lange auf der Wiese diskutieren und kiffen. Schon im letzten Jahr sollten sie die Klappe halten, und jetzt irgendwie wieder. Sie spüren, etwas ist im Busch. Ihr Anrecht auf Herrschaftswissen ist bedroht, dabei hat man ihnen gerade über Jahre hinweg eingeredet, dass dies ihr einziger, wirklich einziger Rettungsring in eine sichere Zukunft ist. Mir ist völlig klar, dass sie viel mehr Zeit brauchen um das alles zu dekonstruieren und für sich selbst neu zu ordnen, und dass wir ihnen etwas überstülpen. Plötzlich, ein paar Wochen nach Projektstart, ist Kalle verschwunden, löscht sich sogar aus der gemeinsamen Chatgruppe, was schon in Zeiten vor der Pandemie einem sozialen Selbstmord glich. Plötzlich ist die ganze Gruppe am Wackeln. Wenn einer fehlt und man weiß nicht warum, das ist merkwürdig. Wenn einer fehlt, der seit Jahren immer da war, umso mehr. Und wenn Kalle fehlt, dann fehlt irgendwie ein ganzes Universum. Irgendwann dann ist er wieder da. Aber es ist komisch. Kalle geht jetzt nicht nur gebeugt, sondern geknickt, geradezu wie ein einziges Fragezeichen. Es geht ihm offenbar nicht gut. Sein Leben liegt in Scherben. Die Filmhochschule jedenfalls hat ihn abgelehnt. Ich bin wirklich, wirklich überfordert. Was machen mit dem allen?

Ich entscheide mich für den Weg, den ich bisher schon gegangen bin: Fragen statt antworten. Und alles Wissen das ich habe zur Verfügung stellen. Was alle Jugendlichen gemeinsam haben ist das Fehlen von selbstermächtigenden Strukturen. Sie drehen alle frei. Die einen sind aus dem System Schule entlassen, die anderen aus ihrem gesamten bisherigen Leben. Ich gebe ihnen das letzte was ich noch habe in die Hand: die Dramaturgie. Bisher waren sie nur für ihre Szenen verantwortlich. Die inhaltliche Steuerung, die Dramaturgie, das war nicht ihre Verantwortung. Aber viele sind schon ein Jahrsiebt bei mir. Warum nicht? Sie sollen diesmal mitdenken im kompletten Machwerk. Ich weiß mir nicht anders zu helfen. Und sie legen los. Als hätte ich den Bären losgebunden. Sie treffen sich über die Proben hinaus, in Garagen und Werkstätten. Sie schreiben und diskutieren. Bei mir ist in diesem Jahr privat und beruflich ziemlich viel los. Phasenweise verliere ich den Überblick über das, was sie da ausbrüten. Allen voran Kalle. Kalle dreht kurze Filmeinlagen für das Stück, Kalle schreibt. Auch die Syrischen Jungs bekommen Rollen in seinem Stück. Mir wird langsam mulmig zumute aber ich kann es nicht aufhalten. Manchmal habe ich das Gefühl, ich habe das alles für Kalle gemacht, damit er sein Universum wieder im Leben verankern kann. Damit er nicht noch mal zum Baum geht und versucht, sich aufzuhängen, weil vielleicht dieses Mal der Ast nicht bricht.

Um es kurz zu machen: Das Stück, das entstanden ist, ist viel zu lang und streckenweise sehr, sehr düster. Es läuft in´s leere, hat mehrere Enden. Teilweise gibt es politisch inkorrekte Aussagen, die nicht wirklich bewusst eingebettet scheinen. Wir haben zwei öffentliche Aufführungen und ich bekomme Anrufe von den KollegInnen, für die ich nicht wirklich die Nerven habe. Wir müssen reden. Ich habe keine Zeit. Wir müssen uns treffen, heißt es dann. In einem ziemlich angespannten Krisengespräch mit dem Rest des Teams, mit dem ich im Verein zusammenarbeite, wird klar, dass wir dieses Stück so nicht auf dem gemeinsamen Festival aufführen können, zu dem alle Jugendgruppen unseres Vereins eingeladen sind. Entweder ändern wir das Stück, oder wir können nicht auftreten.

Dieses Jahr endet so unfassbar wie es begann. Während draußen das Festival-Publikum feiert und johlt und die Beleuchterin mit der Leiter über uns her steigt, um die Scheinwerfer umzuhängen, muss ich die Gruppe mit dem Ergebnis unseres Krisengespräches konfrontieren. Nach einer langen Diskussion an die ich mich nur noch Bruchteilhaft erinnere, passiert ein Wunder. Ich glaube es war Jana, die mal wieder als erste aufstand. Sie nahm Karten in die Hand, gemeinsam schrieb die Gruppe alle Szenen auf, einigt sich auf einen einzigen, klaren, thematischen roten Faden, alle Szenen werden auf ihre Aussagen hin geprüft und neu angeordnet. Vieles fliegt einfach raus. Das Ganze hat einen Spannungsbogen und ein unfassbar stimmiges Ende. Es ist trotzdem grotesk und düster, aber es endet mit Hoffnung, und es endet damit, dass Mo, einer der Jungs mit unfassbaren Fluchterfahrungen, einen Text vorträgt, der von Anfang an von ihm geplant war, einen Text über Freundschaft, Hoffnung und neue Anfänge. Niemand stellt dieses Ergebnis infrage. Es ist eine dramaturgische Meisterleistung, erbracht unter unfassbaren Umständen. Ich habe quasi nur daneben gesessen, zugehört und zugeschaut. Die meisten Szenen von Kalle sind rausgefallen. Aber nicht alle. Die Gruppe spielt auf dem Festival mit so viel Energie, dass am Ende alle schweißgebadet sind, auch Kalle. Das Publikum feiert das Stück, es hat eine große Kraft. Ich kann nach dieser letzten Aufführung nur noch heulen.

Das war im Mai. Wir wussten an diesem Tag noch nicht, dass dies unser letztes gemeinsames Projekt sein wird. Im September darauf kam die Pandemie. Wir sitzen nach der Aufführung noch lange zusammen und reden. Alle müssen irgendwie ihre Wunden pflegen. Jeder macht es ein bisschen auf seine Art. Jana und ihr damaliger Freund, der auch beim Projekt dabei war, haben Pupillen so groß wie der Mond, als sie sich verabschieden. Jana selbst, schaut mich lange an von dem Mond aus, auf dem sie gerade ist, als wüsste sie schon, dass dies eine Art endgültiger Abschied ist. Jana hat meistens alles durchschaut, bevor wir anderen dazu in der Lage waren.

Zurück zum Frühsommer vorm Balkon. Sechs Jahre später öffne ich mein sonnenwarmes Handy um die Nachricht von Kalle zu lesen. Er schreibt, er sei jetzt auf der Filmhochschule angenommen worden. Er lädt mich zur Premiere einer seiner Filme im Rahmen eines Kurzfilmfestivals in den Hackeschen Höfen ein. Ich kann an dem Tag leider nicht, schreibe ihm aber, dass ich versuche zu kommen. Wieder habe ich dieses Schmetterlings-Gefühl. Nicht im Bauch sondern auf der Hand. Wie lange musst Du die Hand in die Luft halten, bis ein Schmetterling drauf landet? Und was machst Du damit er nicht zu schnell wegfliegt? Und du willst ihn irgendwie schützen. Alles was mir an Worten einfällt ist zu grob. Ich will trotzdem noch was sagen. Wahrscheinlich ist es Bockmist, aber ich schicke die Nachricht ab. Irgendwas wie - Freut mich natürlich das mit der Filmhochschule. Trotzdem, Kunstwelt hin oder her, verliere deinen eigenwilligen Zugang zu Dir selbst nicht, da, unterm Strich, ist es alles was Dir bleibt.

(*Name geändert)

Copyright Ana-Svenja Kiesewalter

 

 

 

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